Manuel Vogel
, Jules Denel
· 20.05.2022
Tunesien – das ist Wüste, Pauschalurlaub und Leichtwind auf Djerba. Auch Worldcupper Jules Denel dachte genau das. Trotzdem brach er auf. Er kam zurück mit Geschichten von grünen Küsten, Wellen und Sturm – und genügend guten Fotos, damit wir ihm diese Räuberpistole auch abgenommen haben.
Es ist soweit! Endlich. Nach einer langen Schulterverletzung darf ich wieder aufs Wasser. Als ich an diesem Morgen verschlafen mein Smartphone vom Nachttisch fingere, poppt eine Nachricht meines Bekannten Patrick Fesi auf: „Ich warte auf dich am Flughafen. Tunesien bekommt in den kommenden Tagen die volle Sturm-Breitseite ab. Du MUSST hierher kommen!“ Was soll ich sagen. Ich bin Windsurf-Pro und werde dafür bezahlt, auf dem Wasser zu sein. Ich habe Zeit und das Okay meines Docs. Und ich bin ausgehungert. Drei Minuten später sitze ich am Computer und buche mir ein Ticket. Vermutlich war es einfach noch etwas früh am Morgen oder ich etwas hastig, denn als ich gerade den „Buchen-Button“ gedrückt habe, entdecke ich entsetzt, dass ich mich bei den Flugzeiten vertan habe. Um eine Woche. Umbuchen ist leider nicht möglich.
Als ich das zweite Ticket an diesem Morgen buche, könnte ich heulen und lachen gleichzeitig. Mein Kumpel Sylvain Bourlard ist derartige Spontan-Trips gewohnt. Ihn zu überzeugen, mich zu begleiten, dauert keine zwei Minuten. Über Tunesien als Windsurf-Destination hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Schuld daran waren Vorurteile über schwachen Wind und Bilder von All-inclusive-Hotelburgen in meinem Kopf. Schon einen Tag nach unserer Ankunft in Tunesien sollte ich diese Gedanken über Bord werfen.
Jenseits von „All-in“
Patrick Fesi ist ein typischer Tunesier. Freundlich, aufgeschlossen, und als er uns am ersten Tag unseres Trips durch die wundervollen Ausgrabungsstätten Karthagos führt, kann auch er ein wenig Stolz auf seine Heimat nicht verbergen. 300 v. Chr. war Karthago die reichste und bedeutendste Stadt des Mittelmeerraumes. Heute zeugen die zahllosen Ruinen von Häusern, Palästen und Amphittheatern von der einstigen Größe. Von Karthago aus zieht es uns ans Meer. Weil der Wind noch etwas auf sich warten lässt, statten wir Sidi Bou Said, einer Künstlerstadt am Golf von Tunis, einen Besuch ab. Bereits seit 1914 steht der gesamte Ort unter Denkmalschutz. Liebevoll restaurierte Paläste, Souks (Märkte), kleine Bars und Cafés reihen sich hier aneinander, gepaart mit entspannter Atmosphäre und einem verheißungsvollen Blick aufs Mittelmeer, auf dem die Anzahl der Schaumkronen immer weiter zunimmt. Dass es nun drei Tage lang durchwehen soll, ist die beste Nachricht des Tages.
Für Wind- und vor allem Kitesurfer ist bislang einzig die rund sechs Stunden südlich von Tunis gelegene Insel Djerba ein Begriff. Leichter Wind, zahllose Hotelburgen mit den üblichen All-inclusive-Angeboten sind allerdings nicht das, weshalb wir nach Tunesien gekommen sind. Wir wollen die Nordküste entdecken, wo es – so hat mir Patrick versprochen – wilde Küstenabschnitte, Eichenwälder und tolle Wavespots geben soll. Wir machen uns auf den Weg zum rund zwei Stunden entfernten Spot Dar Janna. Der Norden des Landes ist in der Tat überraschend grün, keine Spur vom erwarteten Wüstenambiente. Wir lassen den Ichkeul Nationalpark – ein geschütztes Feuchtgebiet für seltene Vogelarten und seit 1980 auf der Liste des Weltnaturerbes der UNESCO – links liegen und streben über grüne Hügel dem Strand entgegen. Dar Janna empfängt uns mit tollem Panorama, schräg auflandigem Wind und kopfhohen Rampen zum Springen. Ich genieße jede Sekunde, denn meine Schulter übersteht den ersten Belastungstest seit längerer Zeit.
Saturday night fever
Es ist Samstagabend. Weil wir heute ausgehen, muss ein weiteres Vorurteil dran glauben. Obwohl Tunesien ein überwiegend islamisches Land ist, ist die neue Freiheit, welche sich die Tunesier mit ihrer Jasmin-Revolution vor knapp zehn Jahren erkämpft haben, hier überall greifbar. In den Vororten und Küstenorten nahe Tunis treffen sich am Wochenende die Reichen und die Rastahaarigen gleichermaßen – und alle anderen, die für ein neues und weltoffenes Tunesien stehen. Es gibt Clubs und Bars und man braucht nicht lange, um zu erkennen, das die Lizenzen zum Ausschank von Alkohol hier scheinbar leichter zu bekommen sind als anderswo im Land.
Futter fürs Phrasenschwein
Am nächsten Morgen passt das Wetter zu meinem Befinden. Es regnet und kein Blatt rührt sich auf dem Weg nach Sidi Mechreg. Obwohl es nur knapp 70 Kilometer sind, dauert die Fahrt knapp zwei Stunden und meine beiden Begleiter werden nicht müde, mich mit Phrasen aus dem „Handbuch für verzweifelte Windsurfer“ zu füttern: „Da vorne sieht’s so aus, als ob der Regen aufhört!“ Oder auch „Schau mal, jetzt bewegen sich die Bäume doch!“
Der Spot wird von einer über 2000 Jahre alten Ruine eines römischen Bauwerks flankiert. Unglaublich, dass es hier so lange überdauern konnte, angesichts der Tatsache, dass dieser Ort jahraus, jahrein von den Mistral-Stürmen traktiert wird. So auch heute, meine optimistischen Mitreisenden hatten recht. Als sich kurze Zeit später die Wolken verziehen und ich mit meinem 4,0er den soliden Rampen entgegenrase, bin ich endgültig Tunesien-Fan geworden.
Mekka
Mekka liegt ja eingentlich in Saudi-Arabien. Das Mekka der tunesischen Surfszene liegt in Ras Jebel, unweit nördlich der Hauptstadt Tunis. „Ras“ ist ein perfekter Spot, um sich von 30 Knoten in den Orbit befördern zu lassen. Sandstrand, Sideshorewind, jede Menge Anlauf und eine Zwei-Meter-Welle, die durchaus Power hat, die einen aber nicht gleich komplett zusammenfaltet, wenn man mal einen Fehler macht. Im Gegensatz zu den ersten beiden Spots sind hier auch einige Locals auf dem Wasser, alle freundlich lächelnd und wohl auch etwas überrascht, dass sich mal jemand an „ihren“ Spot verirrt.
Als ich einige Tage später wieder in den Flieger steige, ist mein Kopf voller neuer Eindrücke. Tunesien hat mich komplett überrascht. Bei allen Problemen, die das Land ohne Schönfärberei hat – Armut, wenig Infrastruktur und oft auch Plastikmüll an den Stränden – so ist es doch schöner, abwechslungsreicher, weltoffener, windiger und sicherer als ich es je erwartet hätte.
Ein Trip dorthin ist so lohnenswert wie machbar. In gerade mal drei Stunden ist man da. Wenn man das richtige Ticket bucht.
Anreise: Wer die Wavespots der Nordküste erkunden will, fliegt idealerweise nach Tunis. Die Hauptstadt wird von vielen europäischen Städten angeflogen, z.B. direkt mit Lufthansa, Tunisair oder auch mit Air France über Paris. Die Flugzeit beträgt im Idealfall unter drei Stunden, Flüge sind, je nach Saison, ab 200 Euro zu haben. Die Weiterreise an die Spots der Nordküste ist per Mietwagen über ein recht ordentlich ausgebautes Straßennetz problemlos möglich. Straßenschilder sind häufig zweisprachig beschriftet, eine gute Navigations-App auf dem Smartphone ist allerdings hilfreich. Überraschend gut ist das 4G-Mobilfunknetz in Tunesien ausgebaut, was das Navigieren erleichtert. Auch wenn der Straßenverkehr oft in die Disziplin „Freestyle“ fällt, sollte man zumindest die Geschwindigkeitsbeschränkungen beachten, es wird regelmäßig kontrolliert.
Wind, Wetter & Neoprenempfehlungen: Die Spots der Nordküste werden durch den Mistral befeuert. Wenn also an der südfranzösischen Küste jener kalte Fallwind aus dem Rhonetal feuert, dreht dieser über dem Mittelmeer auf westliche Richtungen, wird oft zwischen Sizilien und der nordafrikanischen Küste noch mal verstärkt und kommt dann als W- bis WNW-Wind an der tunesischen Küste an. Diese Wetterlage kann ganzjährig auftreten, ist aber zwischen Oktober und Juni am häufigsten. Da es im Hochwinter an der Nordküste Tunesiens mit Durchschnittswerten von knapp 13 Grad überraschend kühl werden kann, sind die Monate Oktober und November sowie März bis Juni die beste Reisezeit für einen Trip. Die Winter sind kühl, die Sommer sehr heiß – in der Übergangszeit sollte man sich auf beides einstellen und neben einem Kurzarmneo auch eine warme Pelle im Gepäck haben. Der Mistral kann hier durchaus sehr stark werden, 25 bis 30 Knoten sind keine Seltenheit.
Wellen: Der Mistral hat auf seinem Weg übers Mittelmeer genug Zeit, soliden Swell aufzubauen. Meist bleibt es bei Wellenhöhen zwischen einem und drei Metern, an Big Days kann es auch mal masthoch werden. In der Regel sind die Bedingungen aber auch von Nicht-Pros gut zu meistern. Nach dem Ende einer Windphase laufen oft noch gute Wellen zum SUPen oder Wellenreiten.
Unterkünfte: Tunesien ist ein überaus gastfreundliches Land und abhängig vom Tourismus. Dementsprechend gibt es auch abseits der Touristenzentren ein ausreichendes Angebot an Unterkünften aller Preisklassen und Standards, die über die bekannten Internetportale online gebucht werden können. Wer sorglos und günstig wohnen will, kann sich auch mit Vollverpflegung an der Nordküste rund um Bizerta einrichten – von hier erreicht man Spots, den Ichkeul Nationalpark oder die antiken Stätten von Karthago mit überschaubarem Zeitaufwand.
Surfstationen & Shops: Abgesehen von der 500 Kilometer südlich gelegenen Insel Djerba gibt es in Tunesien so gut wie keine Surf-Infrastruktur. Man ist auf eigenes Material angewiesen, ein Ersatzmast samt Reparaturmaterial im Gepäck ist absolut empfehlenswert.
Alternativprogramm: Die UNESCO-Welterbestätte Karthago östlich von Tunis ist ein „must see“. Ebenso lohnen Ausflüge ins alte Künstlerdorf Sidi Bou Said, in den Ichkeul Nationalpark oder einfach an einen der schönen Sandstrände nördlich von Tunis. Vor allem die Gegend rund um den nördlichsten Punkt Afrikas – das Cap Angela – lädt zum Wandern, Biken oder SUPen ein. Und immer wieder wird die steile und zerklüftete Küste hier von tollen Sandstränden unterbrochen, die man in der Nebensaison nicht mit allzu vielen Badegästen teilen muss.
Gut zu wissen: Die Nordküste Tunesiens ist keine Destination für Windsurf-Pauschalurlauber, die fix an einem Spot wohnen und surfen möchten. Man ist darauf angewiesen, flexibel zu sein und auch eigenes Material ist ein absolutes Muss. Als Tourist kann man sich frei bewegen, an aufdringliche Straßenhändler und das übliche Geschacher beim Einkauf wird man sich gewöhnen. Mitunter sind die Strände, vor allem in der Nebensaison, mit Müll verschmutzt – an den touristisch erschlossenen Stränden wird natürlich aufgeräumt. Auch wenn Tunesien in den vom Tourismus geprägten Küstenregionen deutlich weltoffener und liberaler wirkt als dies in den ländlichen Gebieten im Inland der Fall ist, sollte man die Gepflogenheiten des islamisch geprägten Landes respektieren und sich in der Öffentlichkeit nicht allzu freizügig geben.
1 Ras Jebel (GPS-Daten: 37.230920, 10.137320)
Das Herz der tunesischen Waveszene schlägt rund 50 Kilometer nördlich der Hauptstadt Tunis. An guten Tagen ist dieser Spot überraschend gut besucht, aber nie überfüllt. Man parkt direkt am Wasser, der Einstieg ist sandig mit einigen Steinen. Feuert der Mistral aus Nordwest, kommt dieser in Ras Jebel sideshore von links an. Man kann ohne größeren Shorebreak, Strömung oder anderen Gefahren Schwung holen und auf die Rampen zusteuern, die knapp 150 Meter vom Ufer entfernt brechen. An „normalen“ NW-Tagen mit über 20 Knoten Wind werden die Wellen in Ras zwischen einem und zwei Metern hoch und sind perfekt zum Springen und auch zum Abreiten geeignet – eine große Spielwiese, die Wave-Aufsteiger selten überfordert, Cracks aber auch selten langweilt. Nur bei westlich wehendem Mistral wird es schnell böig, dann lohnt die Weiterreise gen Dar Jenna oder Sidi Mechreg.
2 Dar Jenna (GPS-Daten: 37.334238, 9.704694)
Wenn der Mistral für Ras Jebel etwas zu westlich weht, lohnt sich ein Abstecher nach Dar Jenna, knapp 60 Kilometer westlich. Dieser nördlichste Küstenabschnitt Afrikas ist von üppigem Grün geprägt – ein Ambiente, welches man in Tunesien nicht erwarten würde. Der Spot liegt eingebettet zwischen dem schroffen Cap Hmem und Cap Angela und kann mit schönem Sandstrand aufwarten. Ideal ist Mistral aus WNW, dieser kommt dann nahezu sideshore von links. Auch wenn Ras Jebel noch etwas einfacher zu surfen ist, so bietet auch Dar Jenna absolut unkomplizierte Wavebedingungen mit Wellen zwischen einem und zwei Metern Höhe und keinen größeren Gefahren.
3 Sidi Mechreg (GPS-Daten: 37.160665, 9.119026)
Kommt der Mistral voll aus West, lohnen sich die knapp 120 Kilometer von Ras Jebel hinüber nach Sidi Mechreg: Saftig grüne Hügel, azurblaues Wasser und die Ruine eines alten römischen Tempels in Lee ergeben ein äußerst reizvolles Ambiente – Sightseeing und Surfen gehen hier Hand in Hand. Nicht nur aufgrund der Abgeschiedenheit des Spots – bis zur Grenze nach Algerien ist es hier nicht mehr allzu weit – sollte man hier allerdings wissen, was man tut.
Die Welle wird an Tagen mit über 25 Knoten oft logohoch und bricht mit Druck über eine Riffplatte – in Kombination mit dem von links wehenden Sideshorewind ist das ideal für kernige Cutbacks und Aerials, aber auch derbe Wipeouts. Spürbare Strömung und die Felsnase in Lee tragen – zumindest bei weniger geübten Wavern – auch nicht gerade zur Entspannung bei. Wer sicher gehen will, gibt den Lifeguards am etwas in Lee gelegenen Hafen Bescheid, dann haben diese freundlichen Gesellen ein wachsames Auge und es surft sich etwas entspannter.