Henning von Jagow
· 22.10.2022
London ist eine Global City, eine Metropole von Weltrang Südosten Englands. Henning von Jagow lebt dort seit zwei Jahren und seitdem nicht nur das kulturelle Angebot Londons sondern auch jede Menge Surf-Kultur im Umkreis entdeckt. Im Spotguide verrät er euch die besten Windsurf-Spots um London.
Starke Schauer ziehen an diesem Freitagmorgen im Mai über die Metropole Englands. Rotweiße Pappbecher mit dem Arsenal-Logo liegen im Straßengraben und erinnern an das Europapokalspiel im Emirates Stadion vom Vortag. Wenn es für Arsenal mal rund läuft, kann ich deren Fangesänge aus meinem Schlafzimmer heraus gut hören. Aber für den Lieblingsverein der Londoner lief es letzte Nacht wohl nicht gut. Gestern war es ruhig. Für mich aber war es die Ruhe vor dem angekündigten Sturm.
Meine Fahrt an diesem Morgen führt durch die holprigen, kleinen Londoner Gassen, vorbei an den typischen Backsteinhäusern im Victoria-Stil und am altehrwürdigen Highbury Stadion – dem ehemaligen, sehr prestigeträchtigen Fußballstadion von Arsenal London. Was daraus heute geworden ist? Ein nobler und unbezahlbarer Apartmentkomplex. Von dort fahre ich weiter bis nach Stratford, dem Olympiapark, wo der Erzrivale West Ham United seine Heimatstätte hat. Hier bringt mich die vierspurige Autobahn aus dem Norden der Hauptstadt in die Grafschaft Essex, nordöstlich von London.
Es ist Rushhour. Ich bin zum Glück früh dran. Der beste Wind ist erst für nachmittags angesagt, ich habe also keinen Stress. Kilometerlanger Stop-and-go gehört hier rund um die Metropole London mit ihren neun Millionen Einwohnern während der Rushhour dazu. Bis in die 1920-er Jahre war London noch die größte Stadt der Welt. Als mit Beginn des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung voll in Gang kam, wuchs London auf seine sechsfache Größe an – die Spuren dieses rapiden Wachstums sieht man auch teilweise heute noch in Form endloser Reihenhäuser in den Vororten, in denen die vielen Arbeiter seinerzeit untergebracht waren. Mittlerweile hat sich London natürlich längst gewandelt und vereint wie kaum eine andere Stadt auf der Welt Industriegeschichte und Neuzeit.
Ich staune über die Freundlichkeit der Leute. Nur ihren Slang verstehe ich nicht immer.
Wer aber in Essex schon einmal einen guten Windsurftag erwischt hat, den wird etwas Verkehr kaum abhalten. Und da ich schon seit fast zwei Jahren in London lebe und bereits viele Möglichkeiten hatte, perfekte Windbedingungen zu jagen, nehme ich die Verzögerung gerne in Kauf.
Die Zeit im Auto lässt meine Gedanken schweifen. Die Szenerie von prasselndem Regen und verruchten Pubs am Straßenrand erinnert mich an den Gangsterfilm „Essex Boys”. Noch vor wenigen Jahrzehnten war der Nordosten Londons keine gute Adresse. Doch die alten Geschichten von den brutalen Jungs und leicht bekleideten Mädels aus Essex sind lange vorbei. Vielmehr staune ich heute über die Freundlichkeit der Menschen, auch wenn ich ihren Slang nicht immer verstehe.
Die heutige Windvorhersage ist vielversprechend. Vormittags viel Regen, dann jedoch ein trockener Sonne-Wolken-Mix bei 25 bis 30 Knoten aus Süd-Südwest. Surferherz, was willst du mehr?
Surfen & Sightseeing kann man hier bestens miteinander kombinieren.
Kaum ein anderes Land ist mit Windsurf-Spots so reich gesegnet wie Großbritannien, für mich als Freestyler sind aber vor allem meine Homespots rund um die Themsemündung immer wieder eine Reise wert. Alle Spots in der Grafschaft Essex liegen an der Nordsee und sind deshalb gezeitenabhängig, somit funktionieren einige Spots besser bei Hoch-, andere besser bei Niedrigwasser.
Der Verkehr war diesmal weniger schlimm als befürchtet, und ich entscheide mich deshalb noch für eine Warmup-Session in Canvey Island. Denn dieser Spot liegt quasi auf dem Weg. Hier drücken bei auflaufendem Wasser die Wellen der Nordsee in die Flussmündung der Themse – es ergeben sich steile Rampen, die ein wenig an den Columbia River in Oregon erinnern und ideal sind, um Frontloops oder andere Sprünge zu zelebrieren.
Nach einer kurzen Session hat es aufgehört zu regnen und der südliche Wind wird konstanter. Ich will pünktlich, kurz vor Niedrigwasser in Southend am Spot The Ray ankommen, um die perfekten Flachwasserbedingungen zu erwischen.
Auf dem Weg die Küste rauf nach Southend genieße ich meine Fahrt mit weitem Ausblick in das Tal der Themse. Mit zahlreichen Villen und Herrenhäusern ist das hier das Wochenenddomizil der gut betuchten Londoner. Von den Hügeln der Stadt kommend lässt sich der beliebte Flachwasserspot bereits gut erkennen, und schon aus der Ferne sehe ich die ersten Segel entlang der Sandbank der Themse aufblitzen. Beim Blick aufs Wasser muss ich an die guten Frühlingstage in meinen alten Heimatorten Laboe bei Kiel oder Wulfen auf Fehmarn denken, wo die Schlacht um knappe Parkplätze bereits vor der Session für Spannung sorgte. Ganz anders ist jedoch der Vibe hier, denn ich treffe am Strand nur auf eine Handvoll weiterer Briten, die gerade ihr Material aus dem Pick-Up laden. Um Parkplätze muss man sich in England meist keine Gedanken machen, dafür muss man an der Parkuhr aber auch tief in die Tasche greifen.
Am Horizont erkenne ich bereits meinen britischen Windsurf-Buddy Simon, wie er ganz alleine auf seinem RRD-Speedmaterial auf Raumwind steuert und übers glattgebügelte Wasser hinter der trockengefallenen Sandbank entlang brettert. „Good morning mate, it‘s bloody windy mate!”, begrüßt er mich wenig später.
Die Metropole London ist unglaublich hektisch, hier an der Nordseeküste geht es umso entspannter zu. Für viele Surfer ist es genau das, was den Reiz dieser Region ausmacht: Bei guter Vorhersage der Großstadt entfliehen und an der nahen Küste den Kopf fürs Wesentliche freibekommen. Für Touristen bedeutet das: Sightseeing und Surfsession sind hier super miteinander vereint, und der Sport auf jeden Fall eine Reise wert.
Die Region Essex eignet sich perfekt für alle, die mit dem Camper auf der Durchreise in Richtung Cornwall oder Irland sind und im Raum London Sightseeing und Surfen verbinden wollen. Überfahrten sind von Dunkerque oder Calais bis nach Dover möglich. Infos gibt’s online z.B. unter Direct Ferries. Schneller, aber etwas weniger romantisch ist die Anreise durch den Tunnel von Folkestone nach Calais. Vom Ärmelkanal aus erreicht man London in rund zwei Stunden. Die Spots an der Themsemündung sind – vorausgesetzt man meidet die Rushhour, etwa 90 Minuten vom Zentrum Londons entfernt.
Die Region London bietet natürlich sämtliche Möglichkeiten über die bewährten Buchungsplattformen im Internet. Mit dem Womo oder Camper ist London allerdings teilweise unentspannt, daher empfiehlt es sich, etwas außerhalb ein Domizil zu suchen – denn die öffentlichen Verkehrsmittel sind bis weit ins Umland gut augebaut. Darüberhinaus gibt’s in der Region Essex zahlreiche Camping-, Glamping- und Womo-Stellplätze in ruhiger Umgebung und unweit der Küste. Hier eine Auswahl:
Clacton-on-Sea: The Pretty Thing, Parkdean Resorts, The Orchards Holiday Park
Canvey Island: Thames View Camping, Barleylands Camping
Southend-On-Sea: Essex Glamping, Lower Wyburns Farm
Brightlingsea: Pretoria Caravan Park, Fen Farm Caravan Site
Der Südosten Englands wird vor allem bei durchziehenden Tiefdruckgebieten mit Wind versorgt. Die beste Reisezeit für die Region ist jedoch der Spätsommer bis hinein in den Oktober, dann sind die Luft- und Wassertemperaturen noch sehr angenehm, und die Statistik weist einen Wert von 40 bis 60 Prozent Gleitwind aus. Im Hochsommer reicht ein 4/3er Neo, im Frühjahr und Herbst gehören 5/3er Neo und Schuhe ins Gepäck.
Die Gezeiten bestimmen den Rhythmus an der Nordseeküste Englands mit und haben einen Einfluss auf die Surfbedingungen. Vor allem zwischen der 3. und 4. Stunde vor und nach Hochwasser kann die Strömung durchaus stark sein, genauere Infos bekommt ihr in den Einzelbeschreibungen der Spots. Wir haben euch für diesen Guide aber bewusst Spots ausgesucht, die bezüglich des fahrbaren Zeitfensters nicht zu speziell sind, sondern verlässlich funktionieren. Aktuelle Tidenvorhersagen gibt’s auch bei Windfinder.
Große Verleihstationen gibt es in der Region keine, man reist idealerweise mit eigenem Material an. Kurse angeboten werden hier: Mersea Island Watersports
Wer Nachschub benötigt, bekommt diesen hier: Wetndry Boardsports, Southend
Über London gibt‘s ganze Reiseführer. Wahrzeichen wie Tower Bridge oder Westminster Abbey sind ebenso einen Besuch wert wie zahlreiche Museen von Weltrang, z.B. die
National Gallery oder die Tate Gallery of Modern Art.
Das Preisniveau in England ist sportlich, London setzt aber noch mal einen drauf. Egal, ob Eintrittsgelder oder Parkplätze – man sollte entsprechendes Budget einplanen.
Die 50.000-Einwohner-Stadt Clacton-on-Sea ist einer der beliebtesten Spots im Großraum London. Der Strand ist auch bei Badegästen sehr beliebt, während der Ferienzeit kann es voll werden. Der Surfbereich der meisten Locals ist am Martello Tower. Das Parken an der Promenade ist kostenlos – wenn alles belegt ist, findet man mit Bezahlung und Höhenbeschränkung aber im Umkreis weitere Parkplätze, z.B. am Martello Coach and Car Park.
Der Spot funktioniert bei nordöstlichen Winden, dann kommen Wellen am Strand an, die auf Sand brechen und Sprünge und Wellenritte erlauben. Die besten Wellen gibt’s bei mittlerem bis hohem Wasserstand. Auch bei starkem Südwestwind - dieser weht sideshore von rechts - kommen durchaus kleinere Brandungswellen an – ideal in den ersten Stunden nach Hochwasser. Bei Niedrigwasser ist der Spot ebenfalls fahrbar, dann bleibt es allerdings bei kleineren Chops, die auch weniger geübten Piloten kaum Probleme bereiten. Vor und nach Niedrigwasser ist Clacton auch für Einsteiger interessant, da man dann bis weit draußen stehen kann. Kitesurfer und Windsurfer teilen sich den Spot. Vorsicht ist vor einigen Buhnenresten geboten, vor allem bei Hochwasser sind diese teilweise schwer zu erkennen. Auch die Strömung kann jeweils 3-4 Stunden vor und nach Hoch- bzw. Niedrigwasser recht stark sein.
Vor Ort gibt’s auch Campingplätze und Supermärkte. Öffentliche Toiletten an der Promenade sind zu jeder Jahreszeit geöffnet. Weht der Wind etwas mehr aus West-Südwest oder Ost lohnt ein Wechsel ins rund 2,5 Kilometer entfernte Jaywick – mit ähnlichen Bedingungen, aber dann besserer Ausrichtung zum Wind.
Die Surfbedingungen in Brightlingsea sind vor und nach Hochwasser am besten. Es gibt zwei mögliche Startpunkte: Einserseits an den bunten Strandhäuschen am Promenade Way, hier gibt’s auch Parkplätze und eine Wiese zum Riggen. Fahrbar ist hier ein breites Windspektrum von Nordwest bis Südost, mit Flachwasser bis Bump & Jump-Bedingungen. Deutlich reizvoller ist aber der zweite Spot, von den Locals Pointers genannt, etwas weiter südlich vor dem Haven Holiday Park. Hinter einer vor-
gelagerten Sandbank entstehen bei WSW tolle Speedbedingungen für alle Surf-Levels. Dann bläst der Wind ungehindert über die Sandbank und sorgt für spiegelglattes Wasser über die gesamte Länge der Lagune - ideal zum Speedsurfen, Freeriden, Manöverüben oder Freestylen.
Auch Aufsteiger surfen hier sehr sicher, denn die Lagune ist frei von Wellen und hat kaum Strömung. Bei Niedrigwasser geht’s ebenfalls, dann ist das Wasser in der Laugune größtenteils brusttief. Auch außerhalb der Lagune kann man windsurfen, hier gibt’s meist typische Bump & Jump-Bedingungen mit kleinen, steilen Chops.
Zudem kann man in Brightlingsea auch gut den Tag mit der Familie am Strand verbringen. Es gibt eine große Wiese zum kostenlosen Parken und Aufriggen. Einziges Manko: Am Spot befinden sich keine öffentlichen Toiletten.
Der beste Flachwasserspot der Region erstreckt sich über fünf Kilometer Länge, parallel zur Uferpromenade von Southend-on-Sea. Hier surft man bei südlichem Wind hinter einer trockengefallenen Sandbank in einem Priel. Der Speedstrip ist fast ganz gerade, nur auf halbem Weg macht er einen 30-Grad-Knick nach Süden. Die Sandbänke liegen im Schnitt fünf Stunden lang vollständig trocken und sorgen für absolutes Laborflachwasser. Hinter den Sandbänken wird es schnell tief, so dass man auch mit langen Slalomfinnen oder Foils seinen persönlichen Speedrekord jagen kann.
Es gibt ein friedliches Miteinander von Windsurfern, Kitern und Wingern an diesem Spot. Der Weg zur Sandbank ist bei Niedrigwasser von der Uferpromenade am Chalkwell Beach etwa 400 Meter lang und von scharfkantigen Muscheln gesäumt - Schuhe sind hier von Vorteil. Beste Bedingungen gibt’s jeweils 2,5 Stunden vor und nach Niedrigwasser. Parken (Tagesticket: 14 Euro), Riggen und Einsteigen kann man am Thames Estuary Yacht Club direkt vor dem Surf-Café. Öffentliche Toiletten sind am Spot rund um die Uhr geöffnet. Auch bei Hochwasser ist Southend fahrbar, dann gibt’s allerdings Chops, dafür funktionieren dann aber alle Windrichtungen von West über Süd bis Ost. Generell beachten sollte man an diesem Spot die Strömung, vor allem 3-4 Std. nach Hoch- und Niedrigwasser.
Canvey Island ist der am nähesten an London gelegene Spot. Der nach Südosten ausgerichtete Strand liegt direkt im Mündungsbereich der Themse – hier verengt sich die Nordsee zum Fluss hin. Ideal ist der Spot, wenn der Wind gegen die Gezeitenströmung steht, z.B. bei westlichem Wind und auflaufendem Wasser. Dann schiebt die Strömung gegen den Wind, was steile Wellen entstehen lässt, die sich ideal zum Springen eignen. Damit erinnern die Spotbedingungen fast ein wenig an den legendären Columbia River in Oregon/USA, wo endlose Raumschotschläge ohne Höhenverlust zum Alltag gehören. Bei starkem Westwind sind hier durchaus auch Waveboards angebracht. Nur die dicken Pötte auf der Themse sollte man unbedingt im Auge behalten. Auch Ostwind ist fahrbar, dann aber besser bei ablaufendem Wasser.
Der Spot Canvey Island bietet zudem unterschiedliche Annehmlichkeiten wie Cafés, Pubs, öffentliche Toiletten und (kostenpflichtige) Parkplätze. Auch bei Flaute gibt’s hier Alternativen, z.B. einen Skatepark, die Wakeboard-Anlage oder einen Golfplatz.