Dem Wetterphänomen Föhn werden viele miese Eigenschaften nachgesagt. Den Surfern am Urnersee verschafft der brutale Südwind eher Adrenalinschübe und Muskelkater. Balz Müller ist einer von ihnen und berichtet über einen typischen 50-Knoten-Tag im Oktober.
Betrachtet man die uns bekannten Windvorhersagen vom Urnersee, vermelden die mäßige zwölf bis 14 Knoten aus Süd. Doch bei allen, die das Urner Reusstal etwas besser kennen, läuten die Alarmglocken. Der Urnersee befindet sich in einem markanten Tal, welches vielen Leuten auch wegen der Nord-Süd-Verbindung durch den Gotthardtunnel bekannt ist. Und genauso wie mancher Tourist findet auch der Föhnsturm auf diesem Weg durch die Alpen. Der feuchte Südwind erklimmt die Alpen aus Süden, um dann in voller Wucht durch das Reusstal runter zu preschen. Dabei erwärmt sich die Luft um ein Grad Celsius pro 100 Höhenmeter (für alle Wetter-Fanatiker: trockenadiabatischer Temperaturgradient) und wird zu einem trockenen, warmen Fallwind – soviel zur Theorie.
Kein Windhauch weht als ich in der kühlen Morgendämmerung bei mir zu Hause am Bielersee mein geliebtes 3,3er-Segel und das kleine Waveboard nervös in meinen Bulli packe. Der unwissende Surfer würde die Welt nicht verstehen, doch keine 100 Kilometer von meinem Homespot bläst der Föhnsturm bereits mit über 100 km/h. Im Autoradio sprechen sie von starkem, lokal stürmischem Föhn. Angespannt fahre ich also Richtung Föhnmauer – so nennt sich das Wolkenband, erzeugt durch die aus Süden aufstauenden Wolken über dem Alpenkamm. Vereinzelt drücken Föhnfische über den Kamm und die verblasenen Sturmwolken-Fetzten leuchten mit der aufgehenden Sonne in allen Farben. Dieses apokalyptische Bild bestaune ich durch die Windschutzscheibe. In dickem Nebel nähere ich mich nun langsam dem Fuß der ersten Bergkette.
Noch immer bewegt sich kein Blatt und niemand würde an einen Surftag denken. Mit mulmigem Gefühl, ob denn dieser Föhnsturm doch nur in meiner Phantasie bläst, fahre ich in den Seelisbergtunnel. Endlos zieht sich die fast zehn Kilometer lange Röhre tief unter dem Fels dahin. Doch bereits von Weitem sehe ich Licht am Ende des Tunnels und noch bevor ich ans Tageslicht fahre, rütteln bereits Sturmböen am Bulli. Einen Augenblick später befinde ich mich auf dem Viadukt an der steilen Felswand vom Reusstal. Fest klammern sich meine Finger ans Steuer, dabei muss ich mich zwingen, meine Augen auf die Fahrspur statt auf den kochenden Urnersee zu richten.
Die ersten Sonnenstrahlen lassen unzählige Schaumkronen aufleuchten, als ich auf dem bereits gut gefüllten Kiesparkplatz ankomme. Schluss ist es mit der Ruhe. Ein wildes Rudel Adrenalin-Junkies hat größte Mühe, sein Surfmaterial unbeschädigt aus den Autos zu zerren. Der Föhn peitscht mit über 120 km/h über das Bergbach-Delta Isleten, es rollen und fliegen sogar dessen Kieselsteine. Besonders die imposanten, meterhohen Windhosen am Urnersee – auch liebevoll Wasserteufel genannt – machen den Eindruck, als wollen sie uns Surfern wahrhaftig von der Wasseroberfläche verschlingen!
Ein solcher Wasserteufel wirbelt direkt auf mich zu, als ich mich hektisch ins Wasser stürze. Bereits nach wenigen Metern auf dem Brett reißt mir der Sturm mein Rigg aus der Hand und ich – sogleich umgeben von Weiß – klammere mich an mein Board und hoffe, mein Material und ich werden nicht weggesogen! Das sehr kalte Urnerseewasser fließt nun langsam meinen Rücken hinunter und blitzartig steigt mein Adrenalinspiegel in die Höhe in den von mir geliebten Überlebensmodus. Zum Glück sind diese verrückten Windhosen, so schnell sie auch kommen, im Nu auch wieder verschwunden. Nicht aber der anhaltende Föhnsturm, welcher mit weit über 40 Knoten Durchschnittswind auch bereits nach wenigen Minuten für üble Unterarmkrämpfe sorgt. Ich liebe es, machtlos gegen die unglaublichen Naturelemente anzukämpfen. Ich habe zwar das Gefühl, den Wind und mein Material gut zu kontrollieren, doch gleich darauf reißt mir der Föhn hemmungslos den Gabelbaum meines kleinsten Segels aus der Hand und belehrt mich eines Besseren. Wahnsinn, ich liebe es, und ich bin da bei weitem nicht der Einzige
Mehr als ein Dutzend wilde Surferinnen und Surfer kämpfen fasziniert gegen den ältesten Urner namens Föhnwind. Es ist ein einzigartiges Schauspiel, das man am Isleten-Bachdelta hautnah bestaunen kann. Und es lockt nicht nur uns Surfer aus den Löchern, sondern auch jede Menge Zuschauer und Fotografen. Einer dieser verrückten Typen mit Kamera ist Roger Grütter. Ein unglaublich passionierter Fotograf, der sich nicht scheut gegen den Sturmwind anzukämpfen, um hautnah mit seiner Linse atemberaubende Bilder zu schießen.
Da stehe ich also wie ein Gladiator im Kampf mit meinem kleinsten Segel – das 3,3er Severne Freek, komplett offen – auf dem Urnersee und komme weder vor- noch rückwärts. Ich steh’ einfach so im Flugwasser und bestaune die geballte Kraft der Natur! So komme ich mit einem riesen Grinsen retour ans Ufer, springe vom Board und Roger zeigt mir – bis zu den Knien im Wasser stehend – ein Bild auf seiner Kamera, von welchem ich nachts träume. So liege ich am Abend dieses stürmischen Tages todmüde im Bett und mein Kopf brummt noch immer vom wilden Getöse. Der ganze Körper schmerzt und schmunzelnd über die Blattern an meinen Händen falle ich in einen Schlaf voller wilder Sturm-Windsurf-Träume. Noch am nächsten Tag dreht mein Kopf von all den verrückten Sprüngen, Rotationen und dessen harten Ladungen. Ich kann nicht genug davon kriegen und sehne mich bereits ungeduldig nach dem nächsten Adrenalinkick.