Florian Luther
· 02.11.2024
März 2012. Das Vibrieren und Dröhnen der Triebwerke wird langsam lauter, und ich werde durch die Beschleunigung der Maschine kräftig in den Sitz gedrückt. Der Cape Town International Airport zieht immer schneller an uns vorbei, bis wir rasch an Höhe gewinnen. Es bleibt ein letzter Blick zurück auf die jedes Mal aufs Neue faszinierende Silhouette des Tafelbergs, bevor dieser allmählich aus dem Blickfeld verschwindet und ich Kapstadt für erstaunlich lange Zeit den Rücken kehre.
Mit meiner Freundin hatte ich eine Rundreise durch Südafrika gemacht, von Johannesburg über den Kruger National Park, nach Swasiland und dann die gesamte Küste entlang zurück nach Kapstadt. Und alles ganz ohne Windsurfmaterial im Gepäck. Dafür konnten wir fast die gesamte Tierwelt und die unglaublichen Landschaften Südafrikas bestaunen und erleben. Und immerhin hatte ich mir in Durban einen Wellenreiter gekauft und auf dem Weg in der Coffee Bay, in Jeffreys Bay und entlang der Garden Route einige gute Surftage gehabt. Für mich war zum Zeitpunkt unserer Abreise vollkommen klar, dass es nicht lange dauern würde, bis ich zurückkehren würde – dann selbstverständlich wieder mit all meinem Spielzeug. Aber manchmal kommt es anders, als man denkt…
Das erste Mal war ich 2000/01 in Kapstadt. Im Rahmen meines BWL-Studiums habe ich ein sechsmonatiges Praktikum in einem Luxushotel absolviert. Vorteil dabei: Ich arbeitete immer früh morgens und spät abends und konnte somit tagsüber fast jeden Tag auf dem Wasser verbringen und meine ersten Erfahrungen in der Welle machen. Und es entwickelte sich eine gute Freundschaft zu Ray, einem farbigen Einheimischen, der als Kellner in dem Hotel arbeitete, aber aufgrund seiner Hautfarbe vom damaligen Manager ganz anders behandelt wurde als ich.
Ein paar Jahre später – 2004 – wurde ich noch einmal von meinem damaligen Board-Sponsor HiFly zu einem Fotoshooting ans Kap eingeladen und erlebte eine unglaubliche Zeit. Der HiFly-Katalog aus der Saison 2005 wird von mir seither in Ehren gehalten.
In den letzten zwölf Jahren habe ich einige andere coole Destinationen auf der ganzen Welt besucht, häufig gemeinsam mit meinem Reise- und Windsurf-Buddy Chris Hafer, aber irgendwie war ich, anders als Chris, seit 2012 nicht nach Kapstadt zurückgekehrt.
Während wir im Frühjahr 2023 auf Sardinien die Spots an der Nordküste erkundeten, erzählte Chris mir, dass er wieder Flüge nach Südafrika für Februar 2024 gebucht habe und in dem gebuchten Apartment noch Platz sei. Ob ich nicht vielleicht Lust hätte. Wie so häufig, machte es sofort „klick“, und in meinem Kopfkino lief ein „Best of“-Streifen meiner gesammelten Kapstadt-Erinnerungen. Ein „Nein“ als Antwort war irgendwie sehr schnell keine Option …
Und so befinde ich mich Anfang Februar 2024 in Begleitung von Chris im Landeanflug auf „The Mother City“, wie Kapstadt auch genannt wird, blicke von weit oben hinunter auf die bekannte Silhouette des Tafelbergs. Die Spannung und Vorfreude sind in den vergangenen Tagen beinahe unerträglich geworden – und gleichzeitig kamen Zweifel auf, ob die Erinnerungen nicht vielleicht noch wesentlich besser wären als die Realität. Hatte Kapstadt sich, wie etliche andere Orte auf der Welt, womöglich so stark verändert, dass vieles nicht zu meinen Erwartungen und Erinnerungen passen würde? Mein Freund Ray hatte mir über die Jahre eine Menge berichtet, aber als weniger privilegierter Bewohner Kapstadts kommt er in aller Regel nicht in die touristischeren Gegenden, an denen auch die meisten Windsurfspots liegen. Aber zumindest der Tafelberg sah auf den ersten Blick schon mal genauso faszinierend und beeindruckend aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte.
Angekommen in unserer Unterkunft in der Nähe des bekannten Spots Big Bay ging es sofort zu einer ersten Surfsession aufs Wasser. Schlagartig zeigte sich die Diskrepanz zwischen Erinnerung und Realität. Wo es früher am Rande der Dünen nur einen Wiesenparkplatz mit vielen öffentlichen Braai-Plätzen (BBQ-Plätze), einen Surf-Kiosk und einen Lifesaver-Club gab, gibt jetzt es nur noch wenige Quadratmeter Rasen. Ansonsten sind die ehemaligen Dünen komplett bebaut und betoniert. Es gibt hier nun anstelle der früheren Idylle unzählige Apartments, Parkplätze, viele Shops und Restaurants, und dementsprechend ist es bei allen Bedingungen ziemlich voll. An keinem anderen Spot tummeln sich so viele Wassersportler mit so viel unterschiedlichem Equipment. Schwimmer, Seekayak-Fahrer, Wing Foiler (die gab es 2012 auch nicht), Stand-up-Paddler und Foiler, Kiter, Surfer aller Könnens- und Nichtkönnensstufen – und tatsächlich auch der eine oder andere Windsurfer. Diese sind aber mittlerweile in der Regel deutlich in der Unterzahl. Entsprechend ist Umsicht und Vorsicht im Wasser geboten.
Zwischen Sunset Beach und Big Bay wurde in den letzten zwölf Jahren viel gebaut, und auch der Wassersporttourismus hat exponentiell zugenommen. Sobald der Cape Doctor, wie der vorherrschende Nordostwind genannt wird, auf Touren kommt, kann man vor lauter Kites den Himmel am Bloubergstrand kaum noch erkennen. Ich habe auf der ganzen Welt noch nie so viele Schirme am Himmel gesehen wie dort – obwohl ich aus der Kieler Gegend und beispielsweise von Fehmarn schon einiges gewohnt bin. Mindestens genau so beeindruckend sind die Blechlawinen, die sich morgens in Richtung Stadt und nach Feierabend wieder in Richtung Bloubergstrand schieben. Alleine um von der Big Bay bis nach Table View zu kommen, normalerweise circa zehn Minuten Fahrdauer, kann man im Berufsverkehr gerne mal eine volle Stunde einrechnen. Die Fahrt an Orte wie Muizenberg oder in die Hout Bay dauert im Berufsverkehr schnell mehr als doppelt so lange wie außerhalb der Rush Hour – oder wie eben damals, vor mehr als einem Jahrzehnt.
Leider muss man feststellen, dass sich auch die sozialen Probleme weiter verstärkt haben. Mein Freund Ray hat mir bei unseren Wiedersehenstreffen hierzu vieles berichtet, was man als Tourist ignorieren oder „übersehen“ oder vielleicht auch gar nicht so richtig wahrnehmen kann. In der Region Western Cape geht es den Menschen für südafrikanische Verhältnisse vergleichsweise gut. Daher hat es in den letzten Jahren eine enorme Zuwanderung aus anderen ärmeren und weniger entwickelten Teilen Südafrikas gegeben.
Trotz 40- bis 50-Stunden-Arbeitswochen reicht der Lohn für viele Menschen kaum zum Überleben.”
Spätestens seit der Coronapandemie hat die Arbeitslosigkeit dramatische Höhen erreicht, sodass die meisten Zuwanderer keinen oder zumindest keinen einigermaßen gut bezahlten Job finden. Der Mindestlohn ist auf einem erschreckend niedrigen Niveau (unter 1,50 Euro pro Stunde), und ein Großteil der ärmeren Bevölkerung kann sein Leben selbst bei 40 bis 50 Stunden Arbeit je Woche nicht durch sein Einkommen bezahlen. Dies ist durch die Coronakrise noch beschleunigt worden. Viele verloren ihre Jobs, wer seit dem Ende der Pandemie wieder eine neue Beschäftigung gefunden hat, verdient oft deutlich weniger als zuvor. Die Anzahl der Bewerber und Arbeitswilligen ist so groß, dass die meisten ärmeren Arbeitnehmer kaum echte Alternativen haben, als für jeden angebotenen Lohn zu arbeiten. Genau so ist es auch Ray ergangen, den wir seit der Coronakrise unterstützen, damit er seine Wohnung halten und sein Leben finanzieren kann – trotz 50-Stunden-Job in der Tourismusbranche.
Durch diese Entwicklungen wachsen die Slums und die „Shack Walds“ (die Blechhütten- und Zeltansammlungen), die sich überall außerhalb der besseren Wohngegenden befinden, immer weiter. Die Townships beherbergen mittlerweile Millionen von Menschen, aber viele können sich selbst dort das Leben nicht mehr leisten. An allen Ecken innerhalb und außerhalb der Stadt sieht man unzählige Blechhütten oder, noch schlimmer, aus Sperrmüll und Plastiksäcken zusammengeschusterte zeltähnliche Unterkünfte, in denen die Ärmsten der Armen hausen, unter vollkommen unwürdigen Umständen. Teilweise hat man sogar in Kapstadt das Gefühl, dass die Behörden regelrecht kapitulieren, wenn selbst ehemalige Touristenattraktionen wie das Castle in der Stadt zu regelrechten Slums verkommen sind und der Signal Hill wegen zu vieler Überfälle auf Touristen abends einfach für das Publikum gesperrt wird.
Der Arbeitslosenzahl entsprechend gibt es natürlich auch nur sehr wenige Steuerzahler. Die Steuersätze und Abgaben sind ebenfalls auf einem niedrigen Niveau – für viele Menschen aber auch schon so eine kaum tragbare Belastung. Entsprechend gering sind selbstverständlich auch die Staatseinnahmen und somit die Möglichkeiten, die vorhandenen Missstände zu bekämpfen. Folgerichtig ist auch die Infrastruktur in einem immer schlechteren Zustand – abgesehen von den Straßen. Die sind im Western Cape weitestgehend auf europäischem Niveau.
Allerdings gibt es seit Jahren aufgrund von Misswirtschaft große Probleme mit der Stromversorgung. Die Energieversorger schaffen es trotz eines augenscheinlich etwas maroden lokalen Atomkraftwerks schon seit Jahren nicht mehr, genügend Elektrizität für die wachsende Stadt bereitzustellen, sodass mittlerweile das sogenannte „Load Shedding“ alltäglich geworden ist: Jeden Tag wird in einzelnen Stadtteilen meist für circa zwei Stunden der Saft abgedreht. Je nach Situation kann dies aber auch deutlich ausgedehnt werden. Davon betroffen sind alle Haushalte und Unternehmen, sodass teilweise die Produktion zum Erliegen kommt. Wer keinen Batteriespeicher besitzt oder sich kein Notstromaggregat leisten kann, sitzt buchstäblich im Dunklen. Auch Züge können dann nicht mehr fahren, was teilweise von der armen Bevölkerung genutzt wurde, um die Oberleitungen zu stehlen und mit dem Verkauf des Kupfers etwas Geld zu machen. Dadurch sind die Zugverbindungen in Richtung Südosten von Kapstadt mittlerweile größtenteils zum Erliegen gekommen, was wiederum zu einer Zunahme des Straßenverkehrs geführt hat. Auch die Kanalisation funktioniert nicht immer, und oft fließt Schmutzwasser ungeklärt ins Meer. Das Müllproblem ist ebenfalls wirklich erheblich geworden, und auch die Kriminalität ist auf einem hohen Niveau, sodass man zumindest außerhalb der „weißen“ und touristischen Gegenden sicherlich besonders umsichtig sein sollte.
Angesichts der massiven Armut, der vielen Obdachlosen und der Menschen, die in Blechhütten und improvisierten Zelten leben sowie der maroden Infrastruktur, ist für mich vollkommen unklar, wie Südafrika jemals wieder einen „gesunden“ Zustand erreichen kann. Aus meiner Sicht bleibt nur zu hoffen, dass die Bevölkerung bei den anstehenden Wahlen einen Politikwechsel erzwingen und eine neue Regierung eine Wende einleiten kann, die aber sicherlich mehrere Jahrzehnte brauchen würde, um deutliche Veränderungen zu bewirken.
Trotz all der Probleme ist das Western Cape eine fantastische Urlaubs- und Windsurfdestination.”
Und doch, trotz all der Probleme ist Südafrika und besonders das Western Cape nach wie vor eine fantastische Urlaubs- und Windsurfdestination. Und vieles ist nach wie vor genauso toll und beeindruckend wie damals, als ich das erste Mal dieses fantastische Land bereisen durfte. Die Landschaft, die Natur, die Tierwelt … Unverändert ist auch, dass man an den Stränden Cape Towns zumindest beim Windsurfen häufig die gleichen Gesichter trifft, wie im Sommer in Hanstholm, auf Rømø oder in Weißenhaus. Das ist natürlich sowohl erfreulich als auch manchmal ein wenig befremdlich.
Viele Surfer zieht es seit Jahren regelmäßig im Winter ans Kap, nicht nur weil es fast eine Garantie für gute Sessions auf dem Wasser gibt, sondern auch, weil die Stadt und du Umgebung so unglaublich viele alternative Beschäftigungsmöglichkeiten und Lebensqualität bietet. Von den Winelands in Stellenbosch oder den Game Reserves mit den faszinierenden Tieren inklusive der „Big Five“ bis zu großartigen Wander- und Mountainbike-Möglichkeiten, Ausflügen auf und in die Berge, Schnorcheln mit Robben, Hai- und Pinguin-Beobachtungen, ein großes kulturelles Angebot, ein unglaubliches Angebot an Fine-Dining-Restaurants oder Food Markets, historische Stätten wie Robben Island, die (allerdings ziemlich touristische) Waterfront, viele gute bis sehr gute Surfspots – man könnte die Liste endlos fortführen. Eines ist sicher: Langweilig wird einem in und um Kapstadt so schnell nicht, zumindest nicht, wenn man wie wir Europäer vom schwachen Rand profitiert und sich somit so ziemlich alles leisten kann, was man möchte.
Man wird aber auch demütig, wenn man sich deutlich macht, in welcher Parallelwelt wir leben, wie viel Glück wir bereits aufgrund unserer Herkunft haben und welche Chancen sich uns bieten. Da werden viele unserer Alltagsprobleme schnell relativ klein und unbedeutend. Etwa die Frage, ob es Wind oder Wellen hat, relativiert sich in ihrer Bedeutung bei einem Blick über den Tellerrand.
Man wird demütig, wenn man merkt, in welcher Parallelwelt wir leben.”
Denn wenn auch in diesem Jahr das Windsystem in Kapstadt nicht ganz so stabil funktioniert hat wie gewohnt – ob es an El Niño oder dem Klimawandel lag, da streiten sich die Geister –, konnte man im Februar mit etwas mehr Fahrerei noch immer eine sehr hohe Windsurfquote erreichen. Allerdings gab es dabei nicht nur Kapstadt-typische Bedingungen mit Druck für kleine Segel und Boards, sondern auch einige „Wobbel & Ride“-Sessions, bei denen diejenigen im Vorteil waren, die entweder etwas leichter sind oder größere Boards und Segel um die fünf Quadratmeter dabeihatten. Dafür war die Wellenqualität an diesen Tagen einfach nur episch – Side-off-Bedingungen und Wellen glatt wie ein Babypopo. Ein absoluter Traum, ganz besonders, wenn dann direkt neben einem noch Robben oder Pinguine auftauchen und einem zeigen, wie man Wellen richtig abreitet!
Drei Wochen und zahllose Windsurf- und Surfsessions später sitzen Chris und ich ziemlich erschöpft und eigentlich urlaubsreif wieder im Flieger. Das Vibrieren und das Dröhnen der Triebwerke nimmt langsam zu, wir werden immer stärker in die Sitze gepresst, und nachdem wir an Höhe gewonnen haben, schauen wir ein letztes Mal auf den Tafelberg, an dem man sich einfach nicht sattsehen kann. Auch wenn sich beim nächsten Trip in die Mother City sicherlich wieder einiges verändert haben wird, steht für mich fest: Es werden nicht wieder zwölf Jahre vergehen, bis ich zurückkehre. Dafür ist es in und um Cape Town herum einfach zu schön, zu faszinierend und zu lohnend – ganz besonders, wenn man dem deutschen Winter für ein paar Wochen entfliehen und den Saisonstart bei angenehmen Temperaturen etwas vorziehen möchte. Und ich hoffe, dass sich dann zumindest ein paar Probleme vor Ort zum Besseren gewendet haben werden. Zum Glück bin ich geborener Optimist…