Fahrtechnik und HistoryCheese Roll - die Mutter aller Loops

Dimitri Lehner

 · 03.09.2024

Heute eine Rarität: die Cheese Roll.  Kaum jemand springt  die seitliche Vorwärtsrolle noch. Warum eigentlich nicht?
Foto: Ryan Nicholas Quinn
Von einem Moment zum anderen war im Windsurfen nichts mehr, wie es war. Mit einem Bang hatte eine neue Ära begonnen: Windsurfen war akrobatisch geworden. Schuld daran war ein 17-jähriger Italiener. Cesare Cantagalli erfand den Vorwärtsloop, um es den Hawaiianern auf Maui mal richtig zu zeigen. Damit löste er eine kleine Revolution aus. Ein Rückblick, der irgendwie auch ein Blick in die Zukunft ist.

Es war, als hätte man den Pflock unterm Holzstoß herausgezogen – alles kam plötzlich ins „Rollen“. Zeitpunkt: November 1986. Tatort: Hookipa, Maui/Hawaii. Der 17-jährige Italiener Cesare Cantagalli verblüffte beim Aloha Classic die internationale Windsurf-Szene mit dem ersten Vorwärtsloop. Genauer: Cantagalli sprang eine Rolle vorwärts um die Mastlängsachse, ein Move, der später als Cheese Roll in die Geschichtsbücher des Windsurfsports eingehen sollte. Die Cheese Roll versetzte die Welt des Windsurfing in Aufregung wie noch kein anderer Move zuvor.

Windsurf-Superstar Pete Cabrinha erinnert sich: „Cesare sprang die ersten Vorwärtsrollen im Wettkampf. Ich beobachtete es vom Strand aus und konnte kaum glauben, was ich da sah – der Sprung sah crazy aus!“


Die Cheese Roll Schritt für Schritt erklärt

Halte nach einer schön steilen Welle Ausschau und vergiss  nicht, dich aus dem Trapez  auszuhaken. Denk dran: Speed ist dein Freund und entscheidend für eine schöne Rotation. Cheese Rolls klappen selbst  im überpowerten Zustand.  Unterpowert funktionieren  sie auch, aber erfordern dann vollen Körpereinsatz.
Foto: Ryan Nicholas Quinn

Plötzlich hing man über dem Material statt darunter

Bis dahin waren die Luft-Manöver im Windsurfen simpel und überschaubar: Es gab hohe Sprünge, es gab weite Sprünge, es gab steile Sprünge (sogenannte Upside-Downs). Und neuerdings Backloop-Versuche, die mit einem Loop aber erstaunlich wenig zu tun hatten. Die „Backloops“ glichen in den Anfangstagen eher in den Wind gesprungenen, horizontalen 180ern, die meist in einem Sturz endeten. Sprich: allesamt Bewegungen, bei denen man unterm Rigg hing und ziemlich passiv durch die Luft segelte. Mark Angulo, Ende der 1980er einer der New Schooler in der Welle, fasste zusammen: „Bisher hingen wir immer unterm Segel, selbst beim Backloop. Und jetzt? Überm Material!“

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Ja, die Vorwärtsrolle von Cesare Cantagalli war ganz anders als alle Luftnummern zuvor: Dieser Sprung zeichnete sich durch eine bisher nicht gekannte Dynamik aus. Der Surfer warf sich übers Segel und zog bei der Rolle vorwärts das Schothorn durch den Wind. Das hatte eine abrupte Rotation zur Folge. Denn nun prallte der Wind von der anderen Seite ins Segel und flippte Mann und Material durch die Luft. Das führte dazu, dass der Surfer kopfüber in der Luft hing und sich dabei um die Vertikalachse schraubte.

Die Cheese Roll hat das Windsurfen akrobatischer gemacht

„Als ich die Cheese Roll das erste Mal sah, war das wie ein Schock. Im ersten Moment begreifst du gar nichts“, sagte der österreichische Speed-Surfer Michi Pucher, der damals auf Maui in der Welle trainierte. Szene-Held Mickey Eskimo schrieb in einen Brief (E-Mails gab’s noch nicht!) an surf im November 1986: „Loop-Sucht auf Maui! Cesare ist dafür verantwortlich!“ Heute sagt Eskimo: „Rückblickend muss man feststellen, dass die Cheese Roll Windsurfen viel akrobatischer gemacht hat. Diese Seit-Vorwärts-Rotation war einfach ‚magic‘ und gar nicht schwer – doch das sagt sich immer leicht, wenn du jemanden hast, der’s dir vormacht wie Cesare Cantagalli. Doch welche Auswirkung die Cheese Roll auf den Sport haben würde, ahnten wir damals nicht. Dafür haben wir zu sehr im Moment gelebt.“

Seit seinem Frontloop-Coup zierte Cantagalli viele Titelseiten von Windsurf-Zeitschriften weltweit. In fast jeder Ausgabe gab es einen Artikel zum Salto vorwärts.Seit seinem Frontloop-Coup zierte Cantagalli viele Titelseiten von Windsurf-Zeitschriften weltweit. In fast jeder Ausgabe gab es einen Artikel zum Salto vorwärts.

Aus dem Killerloop wurde die Cheese Roll

„Vom Segelsport zum akrobatischen Flugsport“, kommentierte Szene-Fotograf Sunstar das Ereignis der ersten Vorwärtsrotation und lieferte gleich noch die Erklärung: „Nicht umsonst heißt der Salto Killerloop.“ Tatsächlich hieß die Vorwärtsrolle von Cesare Cantagalli zuerst Killerloop. Dafür war der Wahlhawaiianer Mickey Eskimo verantwortlich. Eskimo hatte zusammen mit Cantagalli die Vorwärtsrolle im Geheimen trainiert. „Für Mickey war damals alles Killer, was geil war: Killerwind, Killerpasta, Killergirls“, erzählt Cantagalli. „Als er den ersten Versuch meiner Vorwärtsrolle sah, war das für Eskimo ganz klar: Killerloop“.

Monate später verpasste die US-Windsurferin Dana Dawes der Vorwärtsrolle den bestenfalls niedlich klingenden Namen „Cheese Roll“, und als Killerloops wurden nur noch die vertikalen Frontloop-Überschläge bezeichnet, die aus der Cheese Roll hervorgingen. Diese Saltos übers Masttop forderten im Frühjahr 1987 ihren Tribut: Mike Walze brach sich das Schlüsselbein, Eskimo die Hand, Angulo das Fußgelenk, andere zerfetzten sich die Trommelfelle und zertrümmerten am Gabelbaum ihre Nasen – der Killerloop stahl der Cheese Roll die Show.

Die Euros stahlen den US-Surfern die Show

„Ich begann gleich nach dem Aloha Classic damit, selbst Rollen zu springen“, erzählt Pete Cabrinha, „und nicht nur ich, eigentlich wir alle. Wolltest du Wettkämpfe gewinnen, musstest du ab jetzt Rollen und Loops vorführen.“ Besonders die US-Surfer, die sich auf Maui mit übertriebenen „Hawaii-Patriotismus“ als Locals aufspielten, fühlten sich in ihrer Ehre gekränkt. War da doch tatsächlich schon wieder ein „Euro“ aufgetaucht und hatte die Hawaii-Elite mit einem neuen Manöver geschulmeistert. „Die Schmach saß tief“, erinnert sich Mickey Eskimo. Eskimo kam aus Wien, erfand ständig neue Manöver, siedelte früh nach Maui über und landete nun erneut mit der Cheese Roll auf den Titelseiten der Magazine. „Dass wir Euros den Amis die Butter vom Brot nahmen, passte den ‚Maui-Locals‘ gar nicht.

Nach dem Aloha Classic warf sich jeder nach vorne – angestachelt durch Cantagallis Vorwärtsrolle. Das führte zu ungeahnten Variationen des Manövers. Ich sah, wie Matt Schweitzer sich in der Luft überschlug und einen kompletten Salto sprang – der Frontloop war geboren!“, erzählt Eskimo. Doch schon während der Supersession des Aloha Classic 1986 wollte der 18-jährige Dave Kalama die Ehre der US-Windsurfer retten (angeblich hatte er Cantagalli am geheimen Trainingsspot beobachtet) – Kalama gelang der erste übers Segeltopp gedrehte Frontloop.

Robby Seeger sprang in Heidkate die erste deutsche Cheese Roll

„Der Frontloop war Folge der Cheese-Roll-Hysterie, in die das ganze Profi-Lager nach dem Aloha Classic 1986 geriet“, sagt Ex-Worldcupper Robby Seeger, der gerade am Anfang seiner Karriere stand. „Ich habe die Bilder damals gesehen und mir gedacht: so schwer kann’s ja nicht sein. Segelhand dicht, Masthand strecken, Schulter eindrehen.“ Seeger war der erste Deutsche, der die Cheese Roll sprang. Wolfgang Block, Journalist und Fotograf der Zeitschrift SURFEN, fragte Seeger, ob er die Cheese Roll könne? „Klar, krieg ich hin, hab ich ihm gesagt und mich in Heidkate an der Ostsee dann zur Cheese Roll nach vorne geworfen. Natürlich bin ich auf den Rücken geklatscht wie ’ne Kakerlake, doch das spielte keine Rolle. Die Bilder sahen spektakulär aus und erschienen in SURFEN.“

Die Fachmagazine schienen durch die Looperei um die verschiedenen Achsen irritiert und verwechselten häufig die Rotationen. Es dauerte nicht lange, und die Cheese Roll geriet etwas ins Abseits. Lag es am dämlichen Namen oder an der noch spektakuläreren Rotation der End-over-Frontloops, plötzlich musste es der Frontloop sein. „Mit der Cheese Roll lockt man keinen müden Hund hinterm Ofen hervor – als Crack von Welt zieht man die Frontloop-Show ab“, stand in surf zu lesen, die 1987 in jeder Ausgabe über die Loop-Entwicklung berichtete. „Das Surfen der Profis in der Welle hat sich um 100 Prozent Richtung Wahnsinn gesteigert“, resümierte Sigi Hofmann in SURFEN 1987. Debbie Brown war die erste Frau, die den Loop wagte und auch unter den Profi-Frauen den „Salto Mortale“-Hype auslöste.

Die Cheese Roll ist der “sanftere” Frontloop - mit guter Aussicht

Während der Ritation lässt sich “komfortabel” die Aussicht über den Spot genißenFoto: Ryan Nicholas QuinnWährend der Ritation lässt sich “komfortabel” die Aussicht über den Spot genißen

1990 sprang Cesare Cantagalli die doppelte Cheese Roll, und der doppelte Frontloop ließ nicht lange auf sich warten. „Die Cheese Roll war der Anfang. Alles, was folgte, baute drauf auf. Auch im Goiter steckt die Cheese-Roll-Bewegung oder im Pushloop, der im Prinzip eine reverse Cheese Roll ist“, sagt Robby Seeger, der lange Jahre die Trick-Evolution befeuerte. Aus dem übers Top gesprungenen Frontloop, der in den Anfangstagen ein besonderer Ausdruck für Mut und Entschlossenheit war, entwickelte sich der „moderne“ Frontloop – er ähnelte mehr einem horizontalen „Downwind 360er“ als einem wirklichen Salto. Denn der Killerloop war eine brutale Angelegenheit – zu brutal für Mann und Material. „Als ich den Frontloop lernte, zerbrach ich dabei reihenweise Boards. Mir gelang es nicht, seitlich zu drehen – mit dem Ergebnis, dass ich das Board flach aufs Wasser knallte“, erinnert sich Windsurf-Profi Zdenek Maryzko aus Tarifa, „Der Typ, der meine Boards immer wieder zusammenflickte, sagte zu mir: Lern die Cheese Roll, denn da ist die Landung sanft. Gesagt, gelernt. Ich stellte fest, dass nicht nur die Landung bei der Cheese Roll sanfter ist, sondern auch die Rotation schöner, weil langsamer. Du kriegst alles mit, kannst in der Luft sogar zum Strand schauen!“

Die Cheese Roll war der Anfang. Alles, was folgte, baute drauf auf. Auch im Goiter steckt die Cheese-Roll-Bewegung oder im Pushloop, der im Prinzip eine reverse Cheese Roll ist.”

In den Folgejahren entstand eine Zweiklassengesellschaft: Der Frontloop teilte die Windsurfer in zwei Lager wie kein anderes Manöver – nämlich die, die den Frontloop springen oder ihn zumindest schon versucht hatten, und die, die sich nicht trauten. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich dabei um die Cheese Roll oder den „richtigen“ Frontloop handelte – Hauptsache: vorwärts rotieren. Das erzeugte ein komisches Performance-Diktat, das unserem Lieblingshobby eine fragwürdige Hierarchie verpasste – bis heute. Und alles hatte damit begonnen, dass es Cesare Cantagalli mit einem Super-Move allen zeigen wollte. Oder wie Pete Cabrinha es formulierte: „Cesare wird immer der Typ sein, der den Vorwärtsloop erfunden hat.“

Robby Naish und Co. über die Cheese Roll

Robby Naish: „Cesare brachte die Cheese Roll im richtigen Moment ins Spiel – als Windsurfen akrobatisch wurde, die Boards kurz, die Farben neongrell. Good Times! Zdenek lässt die Cheese Roll spaßig aussehen, ich glaube, ich werde auch wieder Cheese Rolls machen!“
Foto: markusbergerphotography.com

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