Klaas Voget
· 29.01.2021
Jeder kennt das – ein Treffen unter alten Freunden ist durch nichts zu toppen. 20 Jahre nach seiner Zivi-Zeit kehrte Worldcupper und Entwickler Klaas Voget zurück nach Norderney und traf neben vielen Kumpels auch auf großartige Bedingungen.
Ein dumpfes Trommeln, dann nichts. Ich merke, wie sich jede Zelle meines Körpers dagegen wehrt, dieses Geräusch zu verarbeiten. Da ist es wieder. Diesmal lauter – die Decke geht über meine Ohren. Für eine Sekunde vermeldet mein System Entspannung, doch dann kracht laut und mit voller Wucht die Tür zu meinem Zimmer auf. Etwas verschwommen erkenne ich eine Gestalt mittlerer Größe und mittleren Alters mit einem Küchenkittel um den Bauch gezurrt. „WO BLEIBST DU?!?!“ Schnaubend wie ein Dampfkessel steht die Chefin meiner Zivistelle in meinem etwa neun Quadratmeter kleinen Zimmer und peitscht mich förmlich aus dem Bett. „Heute Mittag brauche ich zwölf Eimer Kartoffeln!“ Mit diesen Worten verließ die Frau mein Zimmer wieder und fügte auf dem Flur noch an „…in fünf Minuten im Kartoffelkeller!“
Nach dieser Einleitung mag es seltsam klingen, doch es war die unbeschwerteste Zeit, die man sich vorstellen kann. Der Zivildienst. Norderney war damals so eine Art Geheimtipp für Zivildienst-Deluxe, mit Strand, Surfen und Party. Nach meiner Zeit hat sich das mehr und mehr herumgesprochen, bis diese tolle Erfindung als Ersatzdienst zur Wehrpflicht letzten Endes abgeschafft wurde. Ich war bei einer Familienferienstätte des Diakonischen Werkes tätig, mit der Adresse „Am Weststrand 1“. Richtig, Inseleinwärts nahmen die Hausnummern zu, ich war damit direkt hinter den Strandkörben mit meinem Staubsauger und dem Kartoffelschälmesser unterwegs. Dass die Chefin mich des Öfteren zur Pünktlichkeit ermahnte, störte mich keineswegs, ich war ja quasi unkündbar und verdient wurde auch mehr oder weniger nichts. An besagtem Morgen war ich erst eine Stunde zuvor aus irgendeinem Strandkorb gefallen, der nach einer Party im „King“ mit anschließendem Nachtsurf für den Ausklang des Abends gekapert wurde.
Im Grunde war es egal, denn im Kartoffelkeller hatte ich meine Ruhe – und Heiner Bruns. Der Kartoffelkeller war direkt neben seiner Werkstatt. Hausmeister Bruns hörte jeden Tag den Heimatsender und hatte gute Laune. Ich war neben ihm der einzige Mann der Belegschaft, und nach meinem Empfinden war ich schon nach wenigen Tagen sein Lieblingskollege. Wir verstanden uns bestens. Im Winter war die Ferienstätte zwei Monate ohne Gäste und wir beide waren auf uns allein gestellt. Neben allerlei Reparaturen und Renovierungen baute ich ihm zwei Custom-Made-Koffer für seine Motorradhelme und er schweißte mir dafür den besten Fahrradanhänger, den je ein Windsurfer besessen hat.
Und damit kommen wir zum wichtigsten Teil meiner Zivi-Zeit: Dem Windsurfen. Norderney würde ich als den besten Wavespot Deutschlands bezeichnen. Mit der Ost-West-Ausrichtung ist Westwind auf den Ostfriesischen Inseln sideshore und Norderney nimmt von allen Inseln die besten Wellen auf – zumindest um Hochwasser herum, denn bei Niedrigwasser verlieren die Wellen schon etwa einen Kilometer vor der Insel ihre Power auf einer Sandbank. Die Stadt Norderney ist autofreie Zone, daher ist ein guter Fahrradanhänger ein essentielles Tool für jeden Windsurfer. Meinen habe ich noch etwa zehn Jahre nach meinem Zivildienst auf der Insel gesichtet, den hatte ich damals an die nächste Zivi-Generation vererbt.
Zu meiner Zeit gab es auf der Insel etwa 15 windsurfende oder wellenreitende Zivis, plus einen ganzen Haufen windsurfender Insulaner, die gerade ihr Abi machten. Dazu kamen lokale Größen wie Bernd Flessner oder Arno Ufen, die ich damals schon aus der Szene kannte. Meine Arbeitszeiten gingen von 7:00 Uhr morgens bis etwa 13:00 Uhr und dann noch mal von 17:45 bis 19:15 Uhr. Den ganzen Nachmittag hatte ich also frei und war jede freie Minute auf dem Wasser – zusammen mit der eben beschriebenen Crew.
Zu den Norderneyern gehörten Erik und Freddy, Zwillinge, deren Eltern in Berlin leben und die ihre Abi-Zeit allein auf Norderney verbringen durften. Ihre Mutter ist Norderneyerin und so wurde das Elternhaus mitten in der Stadt zum Knotenpunkt der ganzen Windsurfcrew der Insel.
Eigentlich war mein Plan, nach dem Zivildienst nach Kiel zu gehen, um Medizin zu studieren, doch aufgrund eines recht hohen Numerus Clausus brauchte ich ein Wartesemester. Ich verlängerte kurzerhand meine Zeit auf der Insel und fing an Contests zu fahren. Am Ende dieser Zeit stand ich auf dem Podium der DWC-Tour, Sponsoren kamen auf mich zu und ich wurde mit einer Wildcard zum Worldcup Sylt eingeladen. Die Aussicht auf ein eher verschultes Medizinstudium und anschließender Arbeit in einer Klinik schien mir plötzlich nicht mehr so verlockend. Ich entschied mich kurzerhand für den Beginn eines Sportstudiums, das mir deutlich mehr Freiheiten ließ, das Windsurfen etwas intensiver zu verfolgen. Aus dieser Entscheidung wurden 20 Jahre Worldcup.
Die meisten der Norderney-Crew von damals sind nur noch sporadisch auf der Insel.
Erik führt mittlerweile eines der größten Fintech-Unternehmen Deutschlands und lebt teils in Berlin, teils in München. Auch seinen Bruder Freddy hat es nach München verschlagen. Arno wohnt als Pilot in Bremen, selbst Flessi verbringt sehr viel Zeit des Jahres fern der Insel in verschiedenen Robinson Clubs als Privat-Coach. Ich war seit Jahren nicht auf der Insel. Ich bin zwar immer mal wieder in Ostfriesland auf Elternbesuch, aber für eine gute Vorhersage ist Klitmøller für mich aus Kiel näher, funktioniert häufiger und ist tidenunabhängig.
In Zeiten von Corona und Grenzschließungen hat sich aber plötzlich alles verändert. Die Spots vor der Haustür haben seit Beginn des Lockdowns eine ganz neue Bedeutung bekommen. Wir durften bei uns in Deutschland zwar die ganze Zeit aufs Wasser, jedoch wurden je nach Region vorübergehend keine Besucher aus anderen Bundesländern geduldet, jeder hat sich nur noch in seinem eigenen Umfeld bewegt. Bei uns in Schleswig-Holstein waren wir an Spots auf dem Wasser, die für uns zuvor kaum existierten, einfach weil wir uns sonst immer nur auf die Vorhersagen in Dänemark fokussierten. Wingfoilen ist explodiert, jeder versucht plötzlich das maximale aus den Bedingungen ‚um die Ecke‘ heraus zu holen. In den letzten 20 Jahren war ich im Juni/Juli meist auf den Kanaren, doch in diesem Jahr habe ich mich mit meiner Family Anfang Juli am „Kleinen Meer“ in Ostfriesland einquartiert, nur eine halbe Stunde von der Fähre nach Norderney entfernt. Ich hatte schon seit Längerem vor, dieser Insel, die nachhaltig mein weiteres Leben beeinflusst hat, mal wieder einen Besuch abzustatten.
Ich stand gerade am „Kleinen Meer“ auf dem Steg und erklärte meinem fünfjährigen Sohn die Wende, da klingelte mein Telefon. Es war Erik, der ganz aufgeregt erzählte, dass die Vorhersage für Norderney so gut aussehen würde und er überlege, sein Home-Office für zwei Tage auf die Insel zu verlegen. Ich hatte das natürlich schon gespottet und war sofort dabei, als er mich mitsamt meiner Familie in sein Haus einlud, denn Tagestourismus war zu dieser Zeit noch verboten. Kaum hatten wir aufgelegt, bekam ich eine Nachricht von Arno, der von Flessi hörte, dass ich auf die Insel kommen würde. Der Buschfunk funktionierte also und als ich zwei Tage später mit der Family von dem Norderneyer-Inselgruß „He“ am Hafen empfangen wurde, war der Zivi-Revial-Abend im Haus der Zwillinge schon organisiert – natürlich mit Abstand.
Der folgende Windsurftag hatte es in sich. Morgens um 6:30 Uhr radelten Erik und ich mit zwei Surf-Trailern zum Januskopf und trafen dort auf Surflehrer und surf-Tester Christian Winderlich aka Windel, Flessi, Dennis Müller und Daniel, einen weiteren Zivi-Kollegen von damals. Alle waren so früh am Start, da bereits um kurz nach sieben Hochwasser stand. Bei West-Südwestwind mit Nieselregen, aber Sideoffshore-Bedingungen vom Feinsten, läuteten wir den Tag ein.
Nach dem Frühstück machte Erik sein Home-Office auf und ich erkundete mit der Familie die Stadt. Das Partyvolk ist mittlerweile mehr und mehr einem etwas gehobenerem Klientel gewichen. „King“, „Strandkorb“, „Möpken“ oder „Inselkeller“ – all diese Lokalitäten von damals gibt es nicht mehr. Dafür Luxusapartments, Wellness und schöne Sundowner-Abende in der „Milchbar“ oder dem „Surf-Café“ direkt am Spot. In der Stadt selbst sieht es ähnlich aus wie damals, abgesehen davon, dass viele Häuser in modern interpretiertem Bäderhaus-Stil neu gebaut oder saniert wurden und es das gesamte „Haus der Insel“ nicht mehr gibt.
Gegen 17:00 Uhr setzen wir die zweite Session fürs Abendhochwasser an. Mittlerweile hatte sich das schlechte Wetter gelichtet, der Wind war mehr reingedreht und die Wellen hatten eine beachtliche Größe angenommen. Der Januskopf ist berüchtigt für seine Buhnen, die während meiner Zivi-Zeit fast mannshoch aus dem Strand herausragten und einen bei Unachtsamkeit hart bestraften. Mehrere Finnen und selbst ein Board fielen den Buhnen zwischen 1998 und 2000 zum Opfer. Aktuell ist eine der Buhnen nahezu komplett unter Sand begraben, so dass man auch bei schräg auflandigem Wind gefahrlos herausballern konnte, um sich eine steile Rampe im Bereich des Buhnenkopfes auszusuchen.
Auch beim Abreiten haben die Wellen am Januskopf eine ordentliche Portion Druck und Sections, die zu Frontside Aerials einladen – sonst in Deutschland eher eine Seltenheit. Wir verfeuerten all unsere Reserven bis in die Abendstunden und landeten mit einem Glas Wein bei gutem Essen allesamt wieder bei Erik im Wohnzimmer. Wie vor 20 Jahren, nur dass mich am nächsten Morgen keine griesgrämige Frau im Kittel aus dem Bett zog, sondern meine beiden Söhne, die schon ganz aufgeregt waren, da ich ihnen vor Abfahrt noch eine Wellenreit-Session versprochen hatte und Flessi ihnen die Aussichtsdüne zeigen wollte.
Neben all dem Leid und den schwierigen Zeiten für so viele Menschen bietet die Corona-Pandemie auch die Gelegenheit, seine Umwelt und Umgebung neu zu entdecken, alte Freundschaften wieder zu beleben und den Blickwinkel auf so viele für selbstverständlich gegebene Dinge zu verändern. Vermutlich wären ohne Corona noch viele weitere Jahre ins Land gegangen, bevor wir uns mal wieder zusammen eine Session auf Norderney einschenken. Nur mein Staubsaugerroboter hätte mich nach jeder Reinigung mit seiner Nachricht auf meinem Telefon an diese prägende Zivi-Zeit erinnert: „‚Hausmeister Bruns’ hat die Reinigung abgeschlossen und kehrt zurück zum Dock.“