Julian Wiemar
· 28.01.2024
Ein feuchter Luftzug strömt durch die Gassen von Westerland und kanalisiert sich zwischen den grässlichen, grauen Plattenbauten so sehr, dass es mir die Kapuze vom Kopf reißt. Lennart hält neben mir panisch mit beiden Händen seine Red-Bull-Cap fest. Wir sind auf dem Weg zu einem griechischen Lokal in der Innenstadt, wo wir mit Yentel zum Essen verabredet sind: „Mal schauen, ob die dort überhaupt Griechisch sprechen“, meint das deutschgriechische Freestyle-Ass neben mir freudig. Dabei hatte seine Mutter Iris heute Mittag erwähnt, dass sie hier niemals in ein griechisches Restaurant gehen würde, da sie in ihrer Wahlheimat Naxos mehr als genug davon hätte. Lennart hingegen ist nicht abgeneigt, er scheint ganz zufrieden mit meiner Restaurantauswahl zu sein.
Und da steht er, pünktlich auf die Minute, der frischgebackene Weltmeister aus Belgien und Lennarts größter Rivale. Yentel und Lennart klatschen sich ab wie zwei beste Freunde, die sich ewig nicht gesehen haben – dabei sind sie hier auf Sylt vorgestern noch gegeneinander um den Titel gesurft. Im selben Moment kommt Yentels Freundin Steffi um die Ecke: „Sorry, ich musste mir noch schnell eine dickere Jacke holen, wir ziehen ja anschließend noch weiter, oder?“ „Na sicher!“, schießt es gleichzeitig aus Lennart und Yentel heraus.
Eine schmale, dunkle Treppe führt hinunter zum Eingang des Kellerlokals. Raus aus den grauen, pfeifenden Gassen, hinein in die hell erleuchteten Untergründe Westerlands. Wir treten ein, ins Warme. Genau ein Tisch ist noch frei, und wir dürfen Platz nehmen.
Steffi erzählt, dass sie erst gestern hergeflogen sei. Der Deal: Wenn Yentel den Titel holt, reist sie spontan nach Sylt.
„Zum Feiern?“, frage ich.
„Ja.“
Lennart grinst.
Steffi ist aus Italien angereist. Dort wohnt sie zusammen mit Yentel, in ihrer Heimat am Comer See. Sie arbeitet dort, Yentel kann dort am See gut trainieren und ist zentral in Europa stationiert, von wo aus er unkompliziert in alle Richtungen aufbrechen kann.
Der knapp zehn Jahre jüngere Lennart wohnt mit seiner Mutter auf Naxos. Er hat mütterlicherseits deutsche Wurzeln, ist in Bremen geboren, doch ist auf Naxos aufgewachsen und startet seit einigen Jahren auch mit griechischer Segelnummer.
Bei der Frage nach dem Getränk schauen Lennart und Yentel sich lange fragend an. Nach dem Motto: Ich bestelle nur ein Bier, wenn du auch eins bestellst, und umgekehrt.
Lennart ist sich unsicher, in welcher Sprache er bestellen soll. Griechisch? Deutsch? Englisch? Er spricht alle drei Sprachen fließend. Er entscheidet sich für Deutsch und bestellt vier Bier.
Wir stoßen an, führen die Gläser zum Mund und – klirrrrrr – Lennarts Glas zerspringt in seinen Händen in Einzelteile, null Komma fünf Liter Hopfen und Malz schießen umher und laufen über die Tischkante in meinen Schoß. Das kam unerwartet.
Steffi und Yentel sind auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches trocken geblieben. Yentel bricht in lautes Gelächter aus: „Was hast du getan??“ Er kriegt sich nicht mehr ein.
Lennart schaut kurz mit nassem, schockiertem Gesicht in der Gegend umher und fängt dann auch laut an zu lachen. Okay, jetzt wissen alle, dass wir hier sind. Und genau in diesem Moment kommt tatsächlich eine deutsche Familie an unserem Tisch vorbei. Der Vater erkennt Yentel und möchte ihm zum Titel gratulieren, doch von hinten kommt der Oberkellner hektisch mit Lappen und Besen angerannt, drängt den Familienvater, der kurz davor ist, nach einem Autogramm zu fragen, störrisch zur Seite – er will seinen edlen Teppichboden retten. Lennart trocknet sich währenddessen mit einer Serviette das Gesicht ab. Steffi schüttelt den Kopf: „Mamma mia!“
Der 19-Jährige hat bereits Pranken wie Dunki oder Albeau – kein Wunder, er hängt, seit er die Schule beendet hat, auch gefühlt entweder am Gabelbaum oder an der Hantelstange. So ein dünnes Glas ist vergleichsweise zerbrechlich: „Ich dachte, das sei aus Plastik, daher habe ich fester zugegriffen.“
Steffi und Yentel schauen sich fragend an, doch Lennart ist bereits in die Speisekarte vertieft: „Uh, Moussaka mit … Ah nee, das ist ja das Kids-Menü.“ „Ja, da bist du doch genau richtig“, meint Yentel. Lennart schmunzelt und blättert weiter. Die beiden sind trotz des Altersunterschiedes und ständigen Konkurrenzkampfes ziemlich gute Freunde, auch wenn sie sich hin und wieder foppen. Im Sommer haben sie sich zum Beispiel für ein paar Wochen vor dem World Cup auf Fuerteventura ein Apartment geteilt und immer zusammen trainiert.
Für Lennart ist Yentel seit ein paar Jahren der Maßstab im modernen Freestyle: „Als ich gesehen habe, dass ich hier direkt in der zweiten Runde gegen Yentel ranmuss, dachte ich nur, wenn ich den Heat gewinne, gewinne ich den ganzen Contest.“ Yentel hört aufmerksam zu. Würde Lennart keine Gläser am Tisch zerdrücken, würde man den Altersunterschied gar nicht wahrnehmen. Er ist für sein Alter sehr durchdacht und wortgewandt – und das gleich auf drei Sprachen.
„Natürlich war ich nach der frühen Niederlage gegen Lennart ein wenig zermürbt. Ich wusste sofort, dass ich nun in der Rückrunde viel Arbeit vor mir haben werde, um noch genügend Punkte für den Weltmeistertitel zu sammeln. Ich hab’s auf die harte Tour gemacht. Erfolgreich“, berichtet Yentel.
Ich hab’s auf die harte Tour gemacht. Erfolgreich“ (Yentel Caers)
„Beim nächsten Mal kannst du aber gerne wieder den sicheren Weg über die Hinrunde nehmen. Ich habe zu Hause vor dem Livestream bei all den Heats mehrfach fast einen Herzinfarkt bekommen“, fügt Steffi hinzu.
Und da kommt schon die Bedienung und möchte die Essensbestellung aufnehmen. Doch im selben Moment betritt die Crew um Harry Goeft von JAKLAR den Laden, die bekanntermaßen große Liebhaber und Fans des Windsurfsports sind. Sie bleiben bei uns am Tisch stehen, und schon wieder kommen sich Fans und Kellner in die Quere. Der Kellner dreht sich wieder um und zeigt an, dass er es in fünf Minuten noch mal probiert. Die Jungs wissen gar nicht, wem sie zuerst gratulieren sollen. Denn heute Abend gibt es nicht nur einen Gewinner. Yentel und Lennart haben beide einen großen Erfolg zu feiern. Sie sind beide zufrieden mit dem Resultat und absolut mit sich im Reinen. Ein Happy End für beide Kontrahenten, wie es im Buche steht. Alle klatschen sich ab. Lennart hat verdient seinen ersten Event-Sieg eingefahren, während Yentel durch seinen Triumph auf Fuerte und das grandiose Comeback bis auf den zweiten Platz hier auf Sylt trotzdem verdient den Weltmeistertitel gewonnen hat. Und das sehen die beiden jeweils auch so.
„Ihr beide werdet jetzt also die nächsten Jahre da vorne an der Spitze um den Titel kämpfen“, fasst Marco aus der JAKLAR-Crew es zusammen. Lennart und Yentel sitzen sich direkt gegenüber, schauen sich in die Augen und nicken grinsend.
„Aber wir dürfen natürlich Onkel Steven nicht vergessen, der das Event-Podium abrundet“, meint Yentel, während der Kellner sich erneut mit ernster Miene unserem Tisch nähert.
So, jetzt aber: Dreimal Gyros, einmal Saganaki und etwas Brot mit Zaziki lautet die Bestellung. Check.
„Onkel Steven“, wiederhole ich und muss dabei lächeln.
„Ja! Drei Generationen stehen hier auf dem Podium. Steven ist zehn Jahre älter als ich und ich bin fast zehn Jahre älter als Lennart. Steven hat mich früher überallhin mitgenommen, wir haben ständig zusammen trainiert.“
„So wie wir jetzt?“, fragt Lennart.
„Genau!“
„Cool.“
„Weißt du, was lustig ist? Als ich das erste Mal mit meinen Eltern in den Sommerferien auf Naxos, praktisch bei dir vor der Haustür, zum Windsurfen war, da standest du noch nicht einmal auf dem Brett.“
„Mit neun habe ich angefangen. Ich weiß noch, wie du und Steven mich mit euren Videos inspiriert und angespornt habt, ich habe immer zu euch aufgeschaut.“
„Und jetzt haust du uns hier beide aus dem Rennen …“
Lennart schaut grinsend runter auf seine Brotvorspeise, die gerade schon gebracht wurde. Und da fällt Yentel plötzlich noch etwas ein: „Ach! Weißt du noch, was du letztens zu mir meintest?
„Was?“
„Wenn ich einen Double-Air-Culo-into-Culo landen sollte, hörst du wieder auf zu windsurfen.“
Stille. Lennart atmet tief durch.
„Ich glaube nämlich, der Move ist absolut machbar. Lennart hat mir die Hand darauf gegeben“, verkündet Yentel.
„Mist, jetzt ist es offiziell“, seufzt Lennart.
Er weiß nicht, was er dazu noch sagen soll, also werfe ich etwas in den Raum: „Was ist, wenn Lennart den Trick als Erster landet?“
„Dann darf er weitersurfen.“
Wir lachen.
„Steffi, meinst du, Yentel wird noch weitere Weltmeistertitel holen?“, frage ich.
„Ja, er trainiert so hart und ist so fokussiert, er gibt alles dafür.“
„Yentel ist der beste Freestyler der Welt, an jedem Tag“, wirft Lennart ein, „wenn es jemand verdient hat, weitere Titel zu holen, dann er.“
So etwas wie Neid scheint es zwischen den beiden nicht zu geben. Aber dafür stehen sie, besonders aufgrund des Altersunterschiedes, auch an zu unterschiedlichen Stellen im Leben und sind zu überzeugt von dem, was sie tun. Sie sind Konkurrenten, Freunde und Trainingspartner, die großen Respekt voreinander haben und nur auf dem Wasser aktiv konkurrieren.
Yentel ist froh, dass endlich neue Talente im Freestyle nachkommen: „Es gibt eine große Lücke zwischen meiner und Lennarts Generation. Eine Zeit lang kamen keine Newcomer nach. Ich bin jahrelang immer nur gegen Ältere angetreten. Bis der da ins Spiel kam“, berichtet er und zeigt dabei auf sein Gegenüber.
„Hast du dich für ihn gefreut, als er im Finale zum zweiten Mal gewonnen hat?“, frage ich vorsichtig.
„Ich habe mich sehr für ihn gefreut. So sehr wie Steven sich für mich gefreut hat, als ich nach dem Halbfinale den Weltmeistertitel sicher hatte. Also fast so, als hätte ich selbst gewonnen. Es ist ein großartiges Gefühl, neben den richtigen Leuten auf dem Podium stehen.“
„Das Sylter Podium, mit Lennart, dir und Steven, den drei Generationen, ist für mich auch einfach perfekt“, schwärmt Steffi. Lennart nickt. Und Yentel stimmt auch zu: „Für unseren Sport ist es super, einen jungen Newcomer wie Lennart auf dem Podium zu haben, und für ihn selbst natürlich auch – der erste Sieg ist der beste.“
„Und auf dem dritten Platz der fast zwanzig Jahre ältere Onkel Steven … Was soll man dazu noch sagen? Ich sehe auch nicht, dass er langsam nachlassen würde, er wird immer besser“, grübelt Lennart.
„Wie lange werdet ihr weitermachen?“, fragt Steffi.
„So lange wir können“, schießt es wieder beinahe gleichzeitig aus den beiden heraus.
Der Kellner stellt das Essen auf den Tisch und grinst zum ersten Mal.
Also dann, bon appétit!
Wir hauen rein, und es herrscht für einen Moment Stille, bis Yentel erneut von vorbeilaufenden Gästen erkannt wird: „Hey, ju lörnt on Rhodos, reit?“
Yentel kaut schnell zu Ende und schaut währenddessen fragend den älteren Herrn und dann mich an. Ich zucke mit den Schultern.
Lennart schmunzelt und gabelt weitere Fritten auf.
„Learned? No … Ah, you mean trained!”, antwortet Yentel nun freundlich grinsend.
“Jäs, jäs”, freut sich der Herr und schaut stolz zu seiner Frau rüber, „ei mätt ju ser.“
„Yeah, in Theologos probably. That’s cool.”
“Kongrätuläischons!”
“Thank you, thank you!”
Der Mann und seine Frau gehen weiter.
Es scheint, als würde der Weltmeistertitel auf Sylt dann doch für mehr Aufruhr sorgen als der Event-Sieg. Doch ob Lennart gerade neidisch ist? Ich glaube nicht.
Vielleicht liegt es auch nur daran, dass Lennart mit dem Rücken zum Gang sitzt.
Nachdem die Teller leer geputzt sind, plaudern wir noch ein wenig über Winter- und Zukunftspläne.
Es klingt so, als wären die beiden topmotiviert, im Winter das Level im Freestyle weiterhin zu pushen. Für beide steht ein Trip nach Kapstadt an. Ob sie dort zusammen wohnen und trainieren werden, wissen sie noch nicht. Denn während sich Yentel weiterhin ausschließlich auf die Disziplin Freestyle konzentrieren wird, nimmt Lennart parallel auch die Disziplin Wave in Angriff. Er möchte seine Profi-Karriere langfristig mehrgleisig aufbauen: „Letzten Winter war ich in Südafrika fast ausschließlich in der Welle, jedoch aufgrund meiner Verletzung. Beim Freestylen hat das Knie noch nicht richtig mitgespielt. Das wird dieses Jahr anders sein, jetzt bin ich wieder fit. Gute Frage, wie ich Freestyle und Wave dann anteilsmäßig in meinem Training aufteilen werde.“
„Fifty-fifty“, haut Yentel auf den Tisch.
„Joa, so fifty-fifty“, bestätigt Lennart, „und du?“
„Weiß nicht, das Springen macht mir Spaß … Das Abreiten eigentlich auch, aber nur wenn die Wellen richtig gut sind. Bei kleinen Wellen möchte ich nicht krampfhaft probieren, mit dem Waveboard etwas aus marginalen Bedingungen zu machen, dann gehe ich lieber in der Brandung freestylen – da habe ich mehr Spaß“, erklärt Yentel.
Lennart hört aufmerksam zu.
Die beiden wissen genau, was sie wollen, und machen ihr Ding, doch sind stets an der Sicht des anderen interessiert. Es gäbe noch so viel mehr zu bereden, aber jetzt müssen wir langsam mal hier raus, aus der stickigen Bude. Uns ist warm, und Lennart wird langsam hibbelig: „Die Rechnung, bitte!“, ruft er auf Griechisch. Keiner versteht ihn. Komisch. Ich probiere es auf Deutsch. Erfolgreich.
Draußen stürmt es mittlerweile noch viel stärker durch die grauen Häuserschluchten. Steffi zieht ihre dicke Kapuze über den Kopf und Yentel legt den Arm über ihre Schulter, während Lennart wieder mit all seinen Kräften seine Kappe festhält. Wir laufen los.
Am Partyzelt auf der Promenade angekommen, erblicken wir vor dem Eingang eine ellenlange Schlange, drinnen tobt der Bär. Yentel zieht mit schnellem Schritt links an der Schlange vorbei, wir hinterher. Vorne am Eingang angekommen, muss er nicht einmal ein Bändchen oder Ähnliches vorzeigen. Der Türsteher nickt, er läuft rein, wir hinterher. Oh, Weltmeister sein muss schön sein. Und da frage ich mich, wann Lennart an der Spitze voranlaufen und das Tempo angeben wird – oder tut er das bereits? Während ich kurz darüber nachdenke, verlieren wir uns schon auf den ersten Metern im Gedränge.