Ich muss da raus! 13 Sekunden Wellenabstand, masthohe Wellen, gute acht Windstärken sideoffshore von links. Und: keine Handschuhe, Haube, Hagel. Stattdessen: leichter Sommer-Neopren, Sonne, warmer Wind. „Einer der größten Sideoffshore-Tage, die ich in Middles in den letzten Jahren gesehen habe“, sagt einer, der es wissen muss: Lars Petersen, der dänische Windsurfpionier, der „Cold Hawaii“, die Region im Nordwesten Dänemarks um Hanstholm und Klitmøller, als einer der ersten Windsurfer zu seiner Wahlheimat gemacht hatte. Es ist ein „Big Tuesday“ – im August. Ähnliche Wellen hatte ich hier zwar schon erlebt, aber nur im eiskalten Winter.
”Better a bigger sail?“, frage ich. „Better big balls“, empfiehlt ein dänischer Local recht trocken.
Cold Hawaii – heute besser als das pazifische Original, wo scheinbar immer Sommer ist? Für Frühstück bin ich viel zu aufgeregt. Um kurz nach sieben wagt sich Oli Maier mit einem 3,6er-Segel als erster „Test-Fahrer“ in die Brecher. Mit Können, Kampf und Timing nimmt er die hohen Hürden auf dem Weg nach draußen. Der Sideoffshore-Sturm pustet die Wellenoberfläche zwar glatt, ist in Ufernähe aber extrem böig und löchrig. „Better a bigger sail?“, frage ich. „Better big balls“, empfiehlt ein dänischer Local recht trocken. Vielen Dank für den Tipp. Ich nehme das 4,0er und mein 87-Liter-Board. Masthohe Weißwasserwalzen donnern in Richtung Steinstrand. Vorfreude? Angst? Als ich starte, spukt der Tina-Turner-Song „Chicken“ ungewollt in meinem Hirn. „Heute ist der Tag, an dem du besser fünf Chicken-Jibes vor der Welle machst, anstatt einen Vollwaschgang darunter“, meinte Søren, ein dänischer Freund zuvor am Strand. Abfallen! Gas geben! Weißwasser erklimmen! Festhalten – bei jeder Wellenquerung gibt es einen heftigen Ruck durch die Verwirbelung des ablandigen Windes. Wo ist die nächste Lücke? Der Weg nach draußen wird zum Bergsteigen übers Weißwasser – bloß nicht unter diese Lawinen geraten! Gefühlter Puls: 180. Aber ich schaffe es. Außerhalb der Brandungszone erst mal Höhe laufen und Herzfrequenz senken.
Doch selbst draußen tauchen immer wieder Wellenberge auf, die so groß sind, dass sie mehrere Hundert Meter vor der Küste brechen. Es sind nicht viele Surfer draußen. An diesem Morgen beobachten deutlich mehr das Geschehen erst einmal vom Ufer. Etliche waren kurzfristig aufgrund der Vorhersage angereist, auch ich. Vielen Dank, liebe Arbeitskollegen, dass ihr heute übernommen habt! Auch der deutsche Worldcupper Leon Jamaer ist früh draußen und zeigt, was an dem Tag möglich ist. Wenn man sich traut und das nötige Können hat. Ich nehme meine erste Welle. Atmen! Ab in die Tiefe – Bottom Turn und wieder hoch. Die Welle läuft und läuft. Ein Turn folgt auf den nächsten. Ich riskiere nichts, will nur am richtigen Punkt der Welle bleiben. Die Wärme, die Länge und die Größe der Wellen erinnern mich an meinen einzigen Hawaii-Besuch. Als ich 14 war, machten wir auf Oahu einen Zwischenstopp auf dem Weg nach Australien, wo meine Familie ein Jahr lang lebte. Legendär sind mir die Bilder vom Kultspot Diamond Head im Kopf geblieben: Lange weiße Wellenlinien, sauber nach rechts brechend. Der heutige Morgen in „Cold Hawaii“ scheint mir absolut vergleichbar. Nach und nach wagen sich mehr Surfer in die Brecher, aber voll wird es heute nie. Dafür sorgt die Größe der Wellen. Leider brechen etliche Masten – und ein Fuß, am Nachbar-Spot in Klitmøller, so wird am Strand berichtet.
Legendär sind mir die Bilder vom Kultspot Diamond Head auf Oahu im Kopf geblieben: Lange weiße Wellenlinien, sauber nach rechts brechend. Der heutige Morgen in Cold Hawaii scheint mir absolut vergleichbar
Wer einmal richtig gewaschen wird, hat Glück, wenn er sein Material erwischt, bevor es hunderte Meter weiter in Lee treibt. Der „Walk of Shame“ am Strand vom nächsten Spot Hamborg zurück nach Middles ist heute sehr stark frequentiert. Gegen Mittag nimmt die Wellenhöhe etwas ab – und mein Mut zu. Der Wind dreht einen Tick seitlicher, was das Rauskommen deutlich erleichtert. Ich wage mich immer näher an den steilen Teil der Wellen. Abheben. Aerial. Abfedern. Eine Explosion aus Weißwasser bringt mich auf den Boden der Tatsachen – und der Nordsee. Mein Material ist weg. Luft! Am besten vor der nächsten meterdicken Schaumwalze. Viel später habe auch ich einen kleinen Triathlon aus Tauchen, Schwimmen und Höhe laufen an Land hinter mir und bin froh, dass alles heile geblieben ist.
Der „Walk of Shame“ am Strand vom nächsten Spot Hamborg zurück nach Middles ist heute sehr stark frequentiert
Auch am Nachmittag und am nächsten Tag laufen die Wellen weiter heiß. Mit abnehmender Größe zwar, aber mit Sommer-Temperaturen und nur ganz selten mal mit einem kurzen Schauer. Noch nie habe ich Cold Hawaii so „hot“ erlebt. Danke, Wettergott, danke an die dänischen Surfer fürs Teilen! Es waren die Tage des Jahres. Zumindest in meinem Kopf haben sie die Grenzen zwischen „Cold Hawaii“ und Hawaii pulverisiert.